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Schleswig-Holstein

Was hattest du an? Ausstellung zum Thema sexuelle Gewalt in Kiel

Was hattest du an

Eine zerrissene schwarze Jeanshose, dazu ein graues Sweatshirt und weiße Sneaker: ein ganz normales Outfit. Das Outfit einer jungen Frau, die vergewaltigt wurde – nach einem Barbesuch von einem völlig Fremden im Keller ihres Wohnhauses. Dies ist nur eine von vielen Geschichten betroffener Opfer von sexueller Gewalt in Schleswig-Holstein. Eine Geschichte, die jetzt Gehör finden soll. Denn das Outfit, welches die junge Frau in dieser Nacht trug, wird bei der Ausstellung „Was hattest du an?“ Ende November in Kiel gezeigt.

Nach dem US-amerikanischen Vorbild der Installation „What were you wearing“, die 2014 an der University of Arkansas präsentiert wurde, kommt diese besondere Ausstellung jetzt zum ersten Mal nach Schleswig-Holstein. Die Idee dahinter: Es werden Kleidungsstücke gezeigt, die den Outfits von Betroffenen nachempfunden sind, die sie zum Zeitpunkt des Übergriffs getragen haben. Dazu werden ihre Geschichten erzählt und Einblicke in ihre Gefühlswelt gegeben.  

Ausstellung „Was hattest du an“ Ende November in Kiel

Die Kielerin Emely Egerland ist die Initiatorin von „Was hattest du an?“ in Schleswig-Holstein.  Seit einem Jahr sucht die 27-jährige Kielerin nach den Geschichten von Betroffenen aus dem Land – und den dazu passenden Kleidungsstücken. Über die Website und die sozialen Netzwerke kamen Opfer von sexueller Gewalt auf die Marketingmanagerin zu, wollten ihre Erfahrungen teilen. „Ich war selber erstaunt, dass sich recht schnell Betroffene gemeldet haben, um mit mir zu sprechen.“ Sie erzählten ihr, wie ein gefeierter Orchesterauftritt zur schlimmsten Nacht ihres Lebens wurde, wie der erste Kuss mit einem Jungen in einer Vergewaltigung endete und von Übergriffen in der Kindheit. „Ich bin natürlich keine Therapeutin. Das habe ich am Anfang immer klar kommuniziert. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass es den Betroffenen auch irgendwie geholfen hat, ihre Geschichten zu erzählen und nun auch an eine größere Öffentlichkeit mit der Ausstellung zu gehen.“

87 Prozent der Betroffenen sind Frauen

Im vergangenen Jahr wurden in Schleswig-Holstein insgesamt 2005 sexuelle Straftaten bei der Polizei gemeldet. 87 Prozent der Betroffenen waren Frauen. Die Dunkelziffer der Übergriffe ist deutlich höher. Allein bei den 16 Geschichten, die bei der Ausstellung in Kiel gezeigt werden, sind nur drei Fälle angezeigt wurden. Die Frau mit den zerrissenen Jeans und dem grauen Sweatshirt ist eine davon. Bei der Polizei sei sie mit den Worten „Sie sind unser Sechser im Lotto!“ begrüßt worden, nachdem den Beamten klar wurde, dass ihre Vergewaltigung sie zum Täter führen würde, der schon mehrfach gewalttätig geworden war. Mehr Einfühlungsvermögen durch die Polizei ist nur einer der genannten Wünsche, welche die Betroffenen mit Blick in die Vergangenheit nannten, erzählt Egerland.   

Die Frage der „Opferschuld“ werde immer wieder beim Thema sexuelle Gewalt diskutiert. Musst du auch immer so kurze Sache tragen? Warst du betrunken? Was hattest du an?

Mit der Ausstellung möchte Emely Egerland Betroffene dazu ermutigen, über ihre Erfahrungen zu sprechen, Verwandte sensibilisieren und auch Vorurteile abbauen. „Du bist selber an einer Vergewaltigung schuld? Das ist doch ein Widerspruch in sich!“, betont Egerland.

Emely Egerland weiß, wovon die Frauen sprechen. Denn sie selbst ist Opfer von sexueller Gewalt geworden. Zehn Jahre lang habe sie nicht über das Erlebte gesprochen. Viele Freunde wüssten es bis heute noch nicht. Lange habe sie unter Albträumen gelitten. „Ich wusste, woher das kommt und habe es verdrängt. Andere Dinge haben die Erinnerungen meist überlagert. Irgendwann habe ich mich dann doch meiner Familie anvertraut.“ Angezeigt habe sie den Fall nicht, auch eine Therapie kam für sie bisher nicht infrage. Doch mit den intensiven Planungen der Ausstellung habe sie das Gefühl, einen großen Schritt in die richtige Richtung getan zu haben – auch für sich selbst: „So schrecklich es auch war, was damals passiert ist, habe ich diese Erfahrung irgendwie ins Positive gedrängt. Jede unterstützende Rückmeldung, die ich bekomme, jedes gute Gespräch mit Betroffenen: All das hilft mir, das Erlebte auch selbst zu verarbeiten und dem Ganzen gewissermaßen etwas Positives abzugewinnen.“ Auch das Outfit von Emely Egerland wird bei der Ausstellung gezeigt. Welches dies ist, möchte sie aber für sich behalten.

Unterstützt wird die Kielerin bei der Kampagne von ihrem Freund René Unger und von  Botschaftern aus ganz Schleswig-Holstein. Auch Kiels Oberbürgermeister Ulf Kämpfer, der Kieler DJ Beauty & the Beats oder die angehende Polizistin Sibel Gaicki ließen sich mit einem Statement fotografieren, um auf das Thema aufmerksam zu machen.

Die zerrissene Jeans, ein Orchesteroutfit, ein rosafarbener Schlafanzug mit Eichhörnchen drauf: 16 Outfits und ihre Geschichten werden während der Ausstellung gezeigt. Alle aus Norddeutschland. Alle weiblich. Natürlich gebe es auch die Geschichten von männlichen Betroffenen, betont Egerland. Doch die Frage „Was hattest du an?“ werde ihnen nie gestellt.

Zum Videointerview mit Emely

Zur Ausstellung

Die Ausstellung „Was hattest du an?“ wurde aufgrund der Pandemie auf 2021 verschoben. Aktuelle Infos und der Link zu den Tickets: www.washattestduan.de

Hilfe für Betroffene Opfer

Hilfetelefon Landesverband Frauenberatung Schleswig-Holstein: Tel.: 08000 116 016

Weißer Ring Opfer-Telefon: Tel.: 116 006

Notruf-Nummer Frauenhaus Kiel: Tel.:  0431/681825

Hilfe für mögliche Täter und Täterinnen

Auch für Menschen, die befürchten, dass sie gewalttätig werden könnten, gibt es Hilfsangebote. Unter der Nummer 0431/26097648 werden Beratungsangebote, Therapien oder Tätertrainings vermittelt.

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen am 18.11.2020 in den Tageszeitungen des sh:z